- Runen: Geheimnis und Geraune
- Runen: Geheimnis und GerauneBis zur Einführung der lateinischen Schrift waren die Runen, die ihren Namen nach dem germanischen Wort »Run« (= Geheimnis, Geraune) erhalten haben, die einzige unter den germanischen Völkern verbreitete Schrift. Allerdings sind Runen niemals das Medium einer umfassenden Schriftlichkeit gewesen, wie sie etwa das Griechische oder Lateinische kannte, sondern sie wurden für eher knappe Inschriften auf losen Gegenständen aus Holz, Knochen, Metall oder später auf Steinmonumenten verwendet. Der Umfang der Inschriften reicht von einem Wort, das ein Name oder ein magischer Ausdruck sein konnte, bis zu längeren, teilweise wohl magischen Texten, wie etwa auf dem Stein von Eggjum in Norwegen mit 192 Zeichen. Der mit Abstand längste Runentext auf dem Stein von Rök in Schweden (9. Jahrhundert n. Chr.) umfasst circa 750 Zeichen.Ursprung und Entstehung der Runenschrift sind ungeklärt, es gilt aber als sicher, dass sich die Runenschrift in freier Anlehnung an Alphabete des Mittelmeerraumes entwickelte. In der Diskussion sind spätetruskische Alphabete des Alpenraumes, wobei unter anderem aber die Vermittlung nach Dänemark ungeklärt ist, sowie das lateinische Alphabet, das über die Rhein-Maas-Region im Zuge nachweisbarer Handelsbeziehungen schon früh nach Südskandinavien hätte vermittelt werden können. Gegenüber den Alphabeten des Mittelmeergebietes hat sich in der Runenreihe jedoch die Reihenfolge der Buchstaben geändert: Die ersten Zeichen sind f, u, th (ausgesprochen wie das englische th), a, r, k - daher die Bezeichnung »Futhark« für das Runen-»Alphabet«. Die früheste Runenreihe, das ältere Futhark, umfasste 24 Zeichen und wurde zwischen 200 n. Chr. und circa 750 n. Chr. benützt. Die rund 230 bekannten, oft nur schwer deutbaren Inschriften dieser Runenreihe sind in urnordischer Sprache, der Vorstufe des Altnordischen (der Grundlage der skandinavischen Sprachen), geschrieben und gehören zu den ältesten Sprachzeugnissen des Germanischen. Bedingt durch einen tief greifenden Lautwandel des Urnordischen und einer Tendenz zur Vereinfachung des Runenritzens kam es im 7. und 8. Jahrhundert zu einer Verkürzung der Runenreihe auf 16 Zeichen (jüngeres Futhark), die in zwei Hauptversionen, den »dänischen« und den noch weiter vereinfachten »schwedisch-norwegischen« Runen (auch »Stutzrunen«), überliefert ist. Das jüngere Futhark ist in Südnorwegen und Südschweden entstanden und dürfte um 800 - also etwa zu Beginn der Wikingerzeit - fertig ausgebildet gewesen sein.Aus Südnorwegen und Südschweden stammt auch die Sitte der monumentalen, häufig ornamentalen, auf Außenwirkung angelegten Inschriften auf aufrecht stehenden Steinen - in der Regel zum Gedenken an einen Toten (nicht als Grabstein), wobei zugleich der Auftraggeber für die Setzung des Runensteins und oft auch der Runenritzer (»Runenmeister«) genannt ist. Etwa folgendes Muster liegt diesen Ritzungen zugrunde: »A ließ diesen Stein errichten nach (= für) B, seinen/ihren Vater/Sohn/Bruder/Ehegatten/Gefährten, C ritzte die Runen«. Es konnte durch vielerlei Zusätze variiert werden. Die Ritzung diente außer dem ehrenden Gedenken für einen Toten auch dazu, den rechtmäßigen Erben zu dokumentieren. Nicht zuletzt deshalb standen die Steine an Wegen, an Übergängen, bisweilen im Umkreis von Thingstätten, den germanischen Gerichtsstätten.Während in der Periode des älteren Futhark bevorzugt auf lose, häufig hölzerne Gegenstände geritzt wurde, sind die runischen Gedenksteine eine typische Erscheinung der Wikingerzeit vom Ende des 8. Jahrhunderts bis zur zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts. Die Mehrzahl aller aufgefundenen Runeninschriften sind wikingerzeitlich. Besonders viele Runen fanden sich im schwedischen Uppland, wobei die uppländischen Runensteine überwiegend erst in christlicher Zeit (um und nach 1000) entstanden sind. Die ältesten Runenfunde aus der Zeit um 200 stammen von den dänischen Inseln Seeland und Fünen sowie von den angrenzenden Gebieten Jütland/Schleswig im Westen und Schonen im Osten. Im Siedlungsgebiet der »Dänen« dürfte somit der Ursprung der Runenschrift zu suchen sein. In Skandinavien einschließlich Island sind denn auch die meisten Runendenkmäler zu finden. In der Völkerwanderungszeit (4. bis 6. Jahrhundert) und der Wikingerzeit hat sich die Runenschrift dann im Westen bis zu den Britischen Inseln, im Osten bis Russland, im Südosten bis Rumänien und Griechenland und im Süden bis Süddeutschland und das Rheingebiet ausgebreitet.Die Runensteine der Wikingerzeit sind die einzige genuin skandinavische Schriftquelle dieser für Nordeuropa politisch wie kulturhistorisch bedeutsamen Epoche. Der weite geographische Horizont wikingischer Kriegs- und Handelsunternehmungen dokumentiert sich in den Texten: Er reicht von den Britischen Inseln und dem Frankenland im Westen über die Baltischen Länder und Finnland bis nach Nowgorod, Russland, Griechenland, Konstantinopel und den islamischen Gebieten. Auch die ersten Jerusalem-Pilger werden auf Runensteinen erwähnt. Einzelne Wikingerzüge und ihre Anführer, die Erhebung von Tributzahlungen in England (»Dänengeld«), Auseinandersetzungen um den bedeutenden Handelsplatz Haithabu bei Schleswig lassen sich auf den Steinen ablesen. Schließlich kann auch die Christianisierung Nordeuropas anhand der Runensteine belegt werden. Die älteste Christusdarstellung des Nordens befindet sich auf dem monumentalen Stein von Jelling in Dänemark (Ende 10. Jahrhundert). Viele Steine des 11. Jahrhunderts enthalten bereits christliche Formeln (»Gott helfe seinem Geiste/seiner Seele«) und zeigen das Christenkreuz. Auch die frühesten Belege altnordischer Stabreimdichtung finden sich auf Runensteinen.In Skandinavien sind Runen noch über das gesamte Mittelalter hin verwendet worden, wie die zahlreichen hölzernen Runenplättchen des 14. Jahrhunderts - versehen mit alltäglichen Mitteilungen, Handels- und Frachtbriefen oder Liebesbriefchen - aus dem norwegischen Bergen beweisen. Die Sitte der monumentalen Gedenkinschriften für Verstorbene hat sich in Skandinavien dagegen seit der Mitte des 11. Jahrhunderts endgültig verloren.Die mit dem Christentum eingeführte lateinische Schrift beherrschte aufgrund ihrer gefestigten Tradition und als Sprache der Kirche auch im Norden von Anfang an den Schreib- und Literaturbetrieb. Das vollständig in Runen geschriebene Rechtsbuch der Landschaft Schonen, das 1275 bis 1300 entstand, war als Transkription einer lateinischen Vorlage wohl eher eine antiquarische Spielerei und hat keinerlei Nachfolge gefunden.Dr. Harald EhrhardtDüwel, Klaus: Runenkunde. Stuttgart 21983.
Universal-Lexikon. 2012.